Chevron, Guyana und das Ringen um die Zukunft der Ölindustrie: Eine ausführliche Analyse
Die Welt der Energiekonzerne ist im Wandel – schleichend, aber unumkehrbar. Zwischen dem globalen Druck zur Dekarbonisierung und dem fortwährenden Bedarf an fossilen Brennstoffen suchen Konzerne nach neuen Wegen, ihre Geschäftsmodelle zukunftsfest zu machen. Besonders Unternehmen wie Chevron stehen vor einem Dilemma: Die bisherigen Säulen ihrer Ölförderung geraten unter Druck, während die Suche nach langfristig tragfähigen Alternativen Fahrt aufnimmt. In diesem Spannungsfeld rückt ein Ort in den Mittelpunkt, den viele bis vor wenigen Jahren kaum auf der Landkarte verortet hätten: Guyana. Der kleine südamerikanische Staat avanciert zum Synonym für das vielleicht lukrativste Ölfeld der Gegenwart – und zum Prüfstein für die strategische Neuausrichtung eines ganzen Konzerns.
Diese Analyse zeigt, wie Chevron versucht, die Abhängigkeit vom Schieferöl zu überwinden, warum das Permian Basin an seine Grenzen stößt, wieso Guyana zur geopolitischen und finanziellen Schlüsselregion geworden ist – und wie ein einzelnes Schiedsgericht über Dividenden, Aktienkurse und die Zukunft eines Konzerns entscheiden könnte.
Chevron war lange das Sinnbild für Stabilität und Zuverlässigkeit im Ölsektor – ein Erbe, das bis zur Gründung der Standard Oil durch John D. Rockefeller zurückreicht. Jahrzehntelang galt der Konzern als sichere Bank für Anleger: mit regelmäßig steigenden Dividenden, vorbildlicher Kapitaldisziplin und einem beeindruckenden globalen Portfolio. Chevron gehört zu den sogenannten "Dividend Aristocrats" – Unternehmen, die ihre Ausschüttungen seit mindestens 25 Jahren kontinuierlich steigern. Doch Anfang 2025 geriet dieses Bild ins Wanken: Der Free Cashflow sank im ersten Quartal deutlich, während die Investitionen stiegen. Analysten warnten: Wenn keine neuen, ertragreichen Projekte erschlossen werden, könnte die finanzielle Basis für die Dividendenpolitik ins Wanken geraten. Chevron muss nun beweisen, dass es sein Versprechen auch in einer sich wandelnden Förderlandschaft halten kann – und Guyana könnte dabei eine zentrale Rolle spielen.
Ein Großteil der Produktion Chevrons stammt aus Schieferölquellen – vor allem aus dem Permian Basin, einem riesigen Gebiet in Texas und New Mexico. Diese Region ist das Herzstück der US-Schieferölproduktion und war entscheidend für die Energieunabhängigkeit der USA. Neben Chevron fördern dort auch ExxonMobil, ConocoPhillips oder Pioneer Natural Resources. Doch das Fördermodell hat Schwächen: Schieferöl muss durch Fracking mit hohem technischen Aufwand aus dichten Gesteinsschichten gelöst werden. Die Förderrate sinkt bereits im ersten Jahr drastisch – oft um mehr als 60 %. Viele Bohrungen lohnen sich nur kurzfristig und müssen ersetzt werden. Das führt zu einem beschleunigten Bohrzyklus. Zudem gelten viele der besten Bohrplätze im Permian Basin bereits als ausgebeutet – der „Sweet Spot“ ist abgegrast. Die Ausbeute je neuer Bohrung nimmt ab, was die Produktionskosten steigen lässt. Der große Vorteil – schnelle Erschließung – kehrt sich in ein Problem um: fehlende Planbarkeit und geologische Erschöpfung.
Fracking nötig: Öl in dichten Gesteinsporen
Förderverlauf: Output fällt im ersten Jahr um über 60 %
Nachhaltigkeit: Neue Quellen müssen ständig erschlossen werden
Methode
Kosten (USD/Barrel)
Lebensdauer je Quelle
Besonderheiten
Konventionell onshore
20–30
10–20 Jahre
Stabil, zunehmend limitiert
Offshore flach
30–50
20–30 Jahre
Gute Planbarkeit, hoher Kapitaleinsatz
Offshore ultra deep
35–70
25–40 Jahre
Technisch komplex, langlebig
Schieferöl (Fracking)
40–55
3–5 Jahre
Kurzfristig effizient, langfristig teuer
Chevron ist beim Schieferöl überdurchschnittlich aktiv. Diese kurzfristige Förderlogik war einst lukrativ, doch Chevron versäumte es, rechtzeitig zu diversifizieren. Exxon dagegen hat seine Förderung breiter gestreut – mit starken Offshore-Anteilen in Guyana, Angola, Katar und anderen Regionen. Michael Wirth, CEO von Chevron, räumte in einem Filing ein: Man müsse „mehr denn je nach verlässlichen, langfristigen Quellen suchen“.
Chevron betreibt Projekte in Nigeria, Indonesien, Australien (LNG Gorgon, Wheatstone), Angola, Kasachstan und dem Golf von Mexiko. Doch rund 40–50 % der Förderung stammt aus US-Schieferregionen. Etwa 20–25 % entfallen auf konventionelle Onshore-Projekte, 15–20 % auf Offshore und der Rest auf LNG. Die internationalen Projekte reichen nicht aus, um US-Rückgänge zu kompensieren. Die Reserven sind auf ein 10-Jahrs-Tief gesunken – ein Warnsignal.
Seit 2015 wurden im Stabroek-Block über 11 Mrd. Barrel Öl entdeckt. Experten halten bis zu 25 Mrd. für möglich. Exxon (45 %, Betreiber), CNOOC (25 %) und Hess (30 %) setzten früh auf diese Region. Chevron will sich über die Übernahme von Hess einkaufen – 53 Mrd. USD für einen Einstieg in das ertragreichste Ölfeld der letzten Dekade.
Exxon und CNOOC berufen sich auf ein Vorkaufsrecht aus dem Joint Operating Agreement (JOA). Chevron argumentiert, dieses greife nicht bei Übernahmen ganzer Unternehmen. Der Fall ging vor ein Schiedsgericht der Internationalen Handelskammer (ICC) – doch dieses war monatelang unvollständig. Branchenkenner vermuten, Exxon habe dies bewusst verzögert. Solche Taktiken sind nicht unüblich und dienen dazu, Kapital zu binden und Druck aufzubauen.
Erst im Mai 2025 war das Tribunal komplett. Der Termin: 26. Mai in London. Zwei Szenarien stehen im Raum:
A: Exxon unterliegt. Chevron darf übernehmen. Aktie profitiert.
B: Exxon gewinnt. Deal platzt oder wird teurer. 53 Mrd. blockiert.
Chevron hat 5 % der Hess-Aktien vorab gekauft – als taktische Reserve.
Unternehmen
Marktkap. (€ Mrd.)
Dividende
Kommentar
ExxonMobil
406,4
3,6 %
Diversifiziert, stabil
Chevron
214,0
4,7 %
Abhängig vom Deal
Shell
175,0
4,3 %
LNG-Fokus, global breit
TotalEnergies
106,7
6,4 %
Stark in Afrika
Chevron steht unter Druck. Guyana könnte das strategische Gegengewicht zur schwächelnden Schieferöl-Förderung sein. Die Entscheidung in London wird den Kurs des Konzerns auf Jahre prägen: Neustart oder Neuverhandlung?